Man hat hier wohl kürzlich versucht, die tiefen Furchen mit Asphalt zu füllen.
Vergeblich, denn die Canyon-artigen Risse, die die Straße nach Alzonne der
Länge nach in einzelne, tektonische Platten spalten, haben den schwarzen Teer
verschluckt, wie wenn man ihn ins Innere eines aktiven Vulkans gegossen hätte.
Übrig sind nur noch die schwarzen Ränder entlang der Spalten und erinnern daran,
dass diese hellgrau-gebleichte, körnige Straße einst pechschwarz und eben war.
Die klappernden, quietschenden Liefer-Camions, die darauf in
wohlproportioniertem zeitlichen Abstand entlangrattern, hüpfen und schaukeln
von Furche zu Bodenwelle. Man kann hier üblicherweise mit einem Handgruß des Fahrer rechnen, ganz egal, ob man selbst motorisiert, mit
dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs ist. Gleichermaßen grüßen auch die Rennradfahrer, die aufgrund ihrer professionellen
Ausrüstung daran zweifeln lassen, ob es sich hier um ambitionierte
Freizeitsportler oder um Teilnehmer der Tour de France handelt. Denn eine deren
Etappen verläuft unweit von hier durch die Région.
Die Straße führt, einseitig von Brombeersträuchern gesäumt,
durch hügelige Felder, deren Früchte reifer Stand auf baldige Ernte
wartet: Sonnenblumenkerne, Mais und
Rotweintrauben. Aus dem angrenzenden Wald ertönt in Friedenszeiten hin und
wieder ein „Peng“, das dem jeweiligen Hasen wohl nicht mehr zu Ohren kam. Der
Schall ist ja bekanntlich chronisch verspätet. Heute jedoch wagt sich selbst
hier kaum einer mehr freiwillig mit einem Gewehr in den Wald.
Einem Hasen gehörte wohl auch der Fetzen Fell, der seltsam
sauber und geometrisch abgetrennt mitten auf der Straße liegt. Er glänzt in der
Sonne, wie vom Profil der Camion-Reifen gestriegelt.
Unwahrscheinlich, dass es sich dabei um die Behaarung eines verzichtbaren Körperteils handelt, doch der restliche Hase will den Betrachter nicht seines Optimismus‘ berauben und hat sich im Straßengraben versteckt.
Unwahrscheinlich, dass es sich dabei um die Behaarung eines verzichtbaren Körperteils handelt, doch der restliche Hase will den Betrachter nicht seines Optimismus‘ berauben und hat sich im Straßengraben versteckt.
Um die hundert Meter weiter liegt ein Gecko. Die
regenbogengrün changierende Schuppenhaut glänzt genauso strahlend wie das
gallertartige Kopfinnere, das unter dem plattgewalzten Augapfel hervorquillt.
Zwei erstarrte Echsenklauen wurden in dem Moment vom Körper getrennt, als sie
beherzt in die Furchen des alten Asphalts nach mehr Standfestigkeit griffen.
Die Verhaltensforschung gliedert die Fauna in drei Sorten: in
die Fluchttiere und in solche, die einer Gefahr mit Versteinerung trotzen. Und dann gibt es noch die Aggressiven. Alle sind gleichermaßen chancenlos angesichts eines vollbeladenen Citroen HY
auf Routinefahrt. Ab der Größe eines Hasen zumindest ist anzunehmen, dass
der Fahrer das Ableben des Zeitgenossen wenigstens kurz registriert hat.
Wie bei Bodenerosion in jeglicher Dimension zutreffend,
erkennt man deren ganzes Ausmaß erst aus der Luft. Von der Erde aus sieht man sie in der Regel nicht, außer man steht direkt davor. Das ist beim Grand
Canyon nicht anders als bei der Straße nach Alzonne, vorausgesetzt, man ist ein
Insekt. Eines, das nicht fliegen kann, hat es hierbei besonders schwer.
Ein runder Käfer, der so schwarz glänzt, wie einst der noch
frische Asphalt, hat zur Überquerung der Straße angesetzt. Vermutlich ist ihm diese beim Verlassen der
Grasbüschel am Wegesrand wie eine durchgehende Ebene vorgekommen, deren anderes
Ufer in abschätzbarer Entfernung mit angenehmen Schattenplätzen winkt. Denn die
einzige Gefahr, die dem Käfer heute drohend erscheint, geht von der besonders
unbarmherzig heizenden Sonne aus. Deren Wärme lässt den Duft der überreifen Früchte, die sich
unter den Brombeerhecken gegenüber sammeln, aufsteigen und über die Straße
verbreiten, so dass der Käfer diesem verlockenden Ruf brav Folge leisten muss.
Geschäftig wackelt er mit flinken Beinchen über die Höhen und Tiefen des rauhen
Asphalts. Noch weiß das Insekt nichts von den Schluchten vor ihm, die seinen Ausflug zur
ungeahnten Herausforderung werden lassen.
Wie gering ist doch die Wahrscheinlichkeit, dass man auf
dieser Straße einem Gecko begegnet – und wie viel geringer noch die Möglichkeit,
dass man dabei ein Auto fährt, dessen Reifen genau den Weg dieser flinken
Kreatur kreuzen.
Als Käfer lebt es sich da, statistisch gesehen, eindeutig
gefährlicher. Das muss einem nicht unbedingt bewusst sein. Dieser Käfer hier
sieht sein größtes Problem momentan in der scheinbar unüberwindbaren Klamm, die
sich in diesem Augenblick vor ihm auftut.
Er läuft ein Stück parallel zum Abgrund. Nach einigen
Minuten, die in Insektenzeit umgerechnet, durchaus Tage oder Wochen betragen,
erreicht er das Ende der Furche. Er umgeht sie und setzt seinen Weg quer zur
Straße fort.
Bald ist er am Ziel, denkt er sich in seinem Käfergehirn, und
freut sich schon auf die saftigen Brombeeren. Brombeeren? Wo ist ihr Duft
geblieben? Er kann ihn nicht mehr verspüren.
Soll er weiterlaufen? Soll er umkehren?
Soll er weiterlaufen? Soll er umkehren?
Wenn Käfer bessere Augen hätten, könnte er die
Brombeersträucher, die er zunächst hinter sich ließ, nun klein wie eine entfernte
Bergkette vor sich am Horizont sehen.
So aber zweifelt er nun an seiner Mission. Sind die Brombeeren noch da? Gibt es sie überhaupt? Trotzdem beschließt er, seinen Weg erstmal fortzusetzen.
So aber zweifelt er nun an seiner Mission. Sind die Brombeeren noch da? Gibt es sie überhaupt? Trotzdem beschließt er, seinen Weg erstmal fortzusetzen.
Bis er auf die nächste Furche stößt. Soll er jetzt nach
rechts oder nach links abbiegen? Oder doch umkehren? Wo kommt er eigentlich her? Und
wo will er eigentlich hin?
Während das Insekt sich existenzielle Fragen stellt, beginnt
der Boden fast unmerklich zu vibrieren. Die Staubwolke, die sich am Horizont
auftut, kann der Käfer nicht sehen.
Auch das noch! Ein Erdbeben!, denkt er, und entschließt sich
endgültig für den Rückweg. Er dreht sich um, geht ein paar Schritte – und steht
vor einer weiteren Felsspalte.
Das kann doch nicht sein!, denkt der Käfer verwirrt. In diesem Augenblick fragt er sich zum ersten Mal, wozu er eigentlich Flügel besitzt, wenn er sie gar nicht benutzen kann – und merkt, dass er fürchterlichen Durst hat.
Das kann doch nicht sein!, denkt der Käfer verwirrt. In diesem Augenblick fragt er sich zum ersten Mal, wozu er eigentlich Flügel besitzt, wenn er sie gar nicht benutzen kann – und merkt, dass er fürchterlichen Durst hat.
Was soll nun als Nächstes geschehen? Soll der hinter der
Staubwolke vermutete Camion über einen spitzen Stein fahren, der seinen Reifen
zum Platzen bringt und den Fahrer zum Anhalten zwingt, nur damit der Käfer in
Ruhe verdursten kann? Soll Letzterer auf wundersame Weise seine Flügel benutzen
und dem Camionreifen um ein Haar davonfliegen? Oder soll er vor Schreck in die
Schlucht vor ihm fallen, wodurch er den Camion ebenfalls überlebt, falls er dabei
nicht auf dem Rücken landet und infolgedessen langsam verendet? Oder soll, ganz unerwarteterweise, der Raubvogel,
der den Käfer schon seit einiger Zeit aus der Luft beobachtet, diesen nun im
Sturzflug erbeuten? Schließlich besitzen Käfer auch natürliche Feinde, und
dieser Kandidat hätte sich zumindest dieser Gefahr bewusst sein und widersetzen
können, indem er den Ruf der Brombeeren ignoriert und gar nicht erst das
sichere Dickicht am Straßenufer verlassen hätte.
Wer jedoch weiß, ob derartige Selbstdisziplin nicht zu viel
verlangt ist für ein Käferbewusstsein. Obendrein ist nicht gesagt, dass der
Käfer aus reiner Gier handelte. Vielleicht gibt es eine Käferfamilie zu
ernähren, vielleicht entstammt er einer in Bedrängnis geratenen Käferkolonie
und ist entsandt, um neues, fruchtbares Land zu erkunden? Vielleicht ist das
Leben diesseits der Straße für Käfer zur Hölle geworden, weil die über das
angrenzende Maisfeld versprühten Pestizide sie langsam, aber grausam dahinraffen?
Um die Situation zu erfassen, gilt es, nun den Blick zu
verändern, weg vom Innenleben des gepanzerten Helden, und stattdessen beispielsweise einmal die Sicht des am Himmel kreisenden Greifvogels einzunehmen.
Die Straße vibriert nicht wegen eines Lieferwagens. Es sind
Panzer, die anrollen, fünf Stück hintereinander. Jeder von ihnen birgt fünf Männer
im ungefähr gleichen Alter wie die wehrpflichtigen Söhne der umliegenden Dörfer.
Ein paar von den Söhnen sitzen jetzt gerade vielleicht auch in genau solchen
Panzern.
Angesichts dessen verliert das Käferschicksal an Bedeutung.
Wer erinnert sich schließlich heute noch an ein Insekt von 1944? Selbst wenn es
sich im Namen der Sippschaft auf unbekanntes Terrain vorwagte und dabei
ungeahnte Gefahren auf sich nahm?
Ein Windhauch, der an diesem heißen Tag unerwartet kommt,
weht über den Käfer hinweg und mischt sich nur wenige Meter weiter mit den
Abgasen der nahenden Panzer. Er trägt den Duft reifer Brombeeren und erinnert
den Käfer, der aus Angst vor dem immer stärkeren Erdbeben inzwischen in Erstarrung verfiel, wieder an seine Mission. Er setzt seinen Marsch entlang des Abgrundes, der
kein Ende nimmt, fort. Ein einsames Grasbüschel klammert sich an die
Asphaltklippe wie ein Einsiedler, der beweisen will, dass auch die
unwirtlichste Gegend bestimmte Vorteile bietet. Selbst wenn er dabei ein
Dutzend Mal täglich plattgewalzt wird. Irgendwoher muss der ja Wasser beziehen,
denkt sich der Käfer, und wagt einen Blick in die schwarze Tiefe des Abgrunds. Er
kann nicht weit sehen. Doch ihm entgeht nicht das verflochtene Wurzelwerk, das
von den Grashalmen in die Tiefe führt, und jetzt durch die bebende Erde in
Schwingung versetzt ist, ohne dass es reißt. In den Klippen tun sich Risse auf,
aus denen Sand rieselt. Der Käfer fasst all seinen Mut, krabbelt über die Kante
und befindet sich nun kopfüber in der Senkrechten. Er klettert die Wurzelseile
hinab.
Da verdunkelt sich auch schon der Himmel über ihm,
während der erste Panzer nur wenige Millimeter oberhalb des Käfers' Hinterteil hinwegrollt. Die Finsternis dauert drei Sekunden, eine Zeit, die dem Käfer
biblisch erscheint. Er tastet sich langsam vorwärts, zunächst blind, bis sich
seine Augen schließlich allmählich an die Dunkelheit gewöhnen. Jetzt kann er beobachten,
wie sich die Risse in den Schluchtwänden langsam verästeln wie ein in Zeitlupe
gefilmter Gewitterblitz. Vor Aufregung vergisst er seinen Durst.
Auf die Dunkelheit folgen vier Sekunden Licht, dann wieder
drei Sekunden Finsternis, und so fort, bis der letzte Panzer vorüber ist. Das
Gewicht jedes einzelnen vergrößert den Spalt im Asphalt um zusätzliche
Millimeter, die jeweils einer Käferkopflänge entsprechen. Doch die Schlucht um
ihn stürzt nicht in sich zusammen. Als das Erdbeben längst vorüber ist, erreicht der Käfer endlich den sandigen Grund. Davor also hatte er sich so sehr
gefürchtet?
Er wandert durch die Schlucht, die ihm jetzt hell erscheint,
mit seinem ans Dunkel gewöhnten Blick. Ebenso wie Wege in den Abgrund gibt es
auch Wege wieder hinaus, und nach nicht allzu langer Zeit hat der Käfer einen von
ihnen entdeckt.
Die Brombeeren hat er noch lebendig erreicht. Doch damit
endet diese Geschichte. Denn was dann aus seiner Sippschaft wurde, das steht in
einem anderen Buch.